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Vergänglichkeit

von Pfarrer Thomas Gruber.

Als einige darüber sprachen, dass der Tempel mit schön bearbeiteten Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei, sagte Jesus:
Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleibt, der nicht niedergerissen wird.

Sie fragten ihn:
Meister, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll?

Er antwortete:
Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. – Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! Denn das muss als Erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort.

Dann sagte er zu ihnen:
Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben.
Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen.
Aber bevor das alles geschieht, wird man Hand an euch legen und euch verfolgen. Man wird euch den Synagogen und den Gefängnissen ausliefern, vor Könige und Statthalter bringen um meines Namens willen. Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können.
Nehmt euch also zu Herzen, nicht schon im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern und manche von euch wird man töten. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden.
Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden.
Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.

Lukas 21,5-19

„Alle Jahre wieder“ darf ich auch am heutigen Tag Mitte November und zum weltlichen Gedenken des Volkstrauertages sagen: Alle Jahre wieder dürfen/müssen wir auf unsere Vergänglichkeit, unsere Fehler und auch die „Unvollendetheit“ unserer Welt hingewiesen werden. Das schadet nichts, sich darüber Gedanken zu machen.

Gerade die Jetztzeit lehrt uns ja, dass der Pfeil der Welt nicht einfach nur nach oben zeigt. Corona nach fast drei Jahren, Krieg in Osteuropa, Krisenzeiten, die wir schon lange nicht mehr so wie jetzt gehabt haben, zeigen, dass wir vergänglich sind. Hier ist nicht der Himmel auf Erden.

Unser stetiges Bemühen um eine bessere Welt in gemeinsamer Verantwortung muss immer auch Rückschläge erleben und aushalten (können). Ob menschliches Versagen, weil Menschen einfach auch stur sein können, oder die Brüchigkeit der Schöpfung: Sie geben uns Auskunft über die Wirklichkeit, in der wir gerade stehen.

Zur Zeit Jesu hat man die sogenannte Vergänglichkeit auch sehr deutlich gespürt. Jesus spricht vom Untergang Jerusalems in einem ohnehin von Erdbeben heimgesuchten Gebiet. Nichts, was man als sicher anschaut, kann als sicher gelten. Die Zerstörung von Jerusalem, die Jesus bei Lukas voraussagt, ist das Thema. Als Lukas das Evangelium schrieb, ist dieses Ereignis 70 nach Christi Geburt schon eingetreten. Die Römer haben einen großen israelischen Aufstand blutig und mit gewaltiger Macht niedergeschlagen. Sogar der Tempel war zerstört. Für die gläubigen Juden eine seelische (und gemeinschaftliche) Katastrophe, weil damit das Vertrauen in ihren Glauben erschüttert wurde. Denn der Tempel war sozusagen das Statussymbol des Glaubens von damals.

Diese Vergänglichkeit hat man in der Geschichte oft gespürt. Johann Wolfgang von Goethe zum Beispiel schrieb vom großen Erdbeben, das 1755 die damalige Weltstadt Lissabon zerstört hat. Als das passierte, war er zwar erst sechs Jahre alt; doch dieses Ereignis hat die Menschen von damals so sehr beschäftigt, dass er als Erwachsener immer wieder davon schrieb: Kein Stein blieb auf dem anderen, auch die Kirchen waren zerstört, und zu viele unschuldige Menschen waren tot. Viele waren damit beschäftig, sich zu fragen, wie Gott denn dazu steht. Ja, wie er denn das zulassen konnte.

Interessanterweise berichtet der große deutsche Dichter damals, dass in vielen Kirchen von einer gewaltigen Strafe Gottes gepredigt wurde und/aber viele Philosophen versuchten, auch wenn sie ratlos waren, die Menschen zu trösten. Deren Motto war „Wir wissen auch nicht weiter; doch wir stehen euch bei“.

Jesus spricht anbetrachts von unserer Vergänglichkeit nicht von Strafe Gottes, weil das nicht passt.

Liebe Schwestern und Brüder, auch wenn das alles jetzt sehr düster klingt, das Evangelium will uns nicht mutlos zurücklassen. Das ist nicht die Absicht des Evangeliums, auch wenn darin viel Düsteres steht. 

Jesus will, dass wir unsere Vergänglichkeit nicht vergessen. Zugleich will er uns aber sagen, dass wir in dieser Vergänglichkeit einen Ausweg haben. Diese Sichtweise ist heute im Evangelium Thema.

Gerne will man die Vergänglichkeit ausblenden. Man will sie nicht sehen; doch dieses Ausblenden ist nicht die gesündeste. Wenn man Vergänglichkeit ausblendet oder sie nicht wahrhaben will, sucht man nach falschen Glücksbringern und verfällt der Sucht. Wenn man sie ausblendet, wird man zu hart gegen sich selber. 

Jesus warnt heute vor falschen Lehrern. Vielleicht meint er damit alle, die sich vorgaukeln: „Wir hätten alles in der Hand“. Doch Jesus zeigt uns einen anderen Weg. Er will, dass wir die Wirklichkeit in den Blick nehmen. Er möchte uns die Augen öffnen, damit wir auch mutig und hoffnungsvoll auf das Leben schauen.

Wenn er immer wieder sagt, das Ende kommt nicht sofort, will Jesus einen realistischen Blick für das Leben geben. Das heißt, wenn eine Lebenskatastrophe eintritt, muss man darauf nicht gebannt wie ein verängstigtes Kaninchen auf die Schlange starren. Jesus gibt – in unserer Vergänglichkeit – vor, dass es weitergehen kann, dass sich immer wieder ein „nach vorne“ auftun kann. 

Jesus zeigt auch heute, dass Gott selbst nicht das Übel will. Es kommt nicht von Gott und ist nicht von Gott. Oft verstehen die Menschen sich nicht. Und: Unsere Schöpfung ist eben nur Schöpfung, sie ist noch nicht der Himmel. Man kann und darf mit Gott schimpfen und klagen; doch jede Erfahrung von Vergänglichkeit will zeigen, dass es noch einen, hinter allem, gibt, und dahinter nicht das Nichts steht.

Jesus appelliert an die Standhaftigkeit. Der Mensch kann in den schweren Lebenssituationen standhaft bleiben. Oftmals sagen mir Menschen, im Blick auf eigene schwere Zeiten, dass ihnen gerade die schweren Zeiten – im Nachhinein betrachtet – gezeigt haben, dass sie auch ein Vertrauen auf Gott aufbauen können. 

Gott selbst ist nicht als Triumphator durch diese Welt gegangen: Mit dem Kreuz, das er nach dieser Rede heute im Evangelium auf sich nehmen wird, zeigt er, dass jeder schwere Weg auch seinen Sinn hat.